Miss Universum
Die Astronautin
65 Frauen waren schon im All – aber noch keine Deutsche. Eine Kampfpilotin und eine Meteorologin wollen die Erste sein und zur Raumstation ISS fliegen. Unser Reporter war bei ihrem Training in Russland dabei.
Die Ilyushin-76 rast im Sinkflug auf die Erde zu, irgendwo über Russland. In der Kabine kämpft die Eurofighter-Pilotin Nicola Baumann mit einem Schoko-Ei. Das Ei schwebt im Raum, Baumann schwebt dahinter, den Mund weit geöffnet. Lauert darauf, zuzuschnappen. Gar nicht so einfach in der Schwerelosigkeit. Mehrere Scheinwerfer an der Decke leuchten grell, unter uns Turnmatten, über uns Turnmatten. Oder ist es andersherum? Es gibt kein oben und unten mehr. Neben Baumann rudert Insa Thiele-Eich durch ein Meer von Wassertropfen, die sie zu schlucken versucht. Die vier Turbinen dröhnen gleichmäßig, so lange das so bleibt, läuft alles nach Plan. Auf 6000 Meter Höhe fängt die Crew im Cockpit die Maschine ab. Wir plumpsen zurück auf die Matten.
Der Parabelflug des Gagarin-Kosmonautenzentrums in Swjosdny Gorodok, 50 Kilometer nordöstlich von Moskau, ist eine erste Etappe der Ausbildung zur Astronautin – und die Bundeswehrpilotin Nicola Baumann, 32, eine von zwei Anwärterinnen auf den Job im All. Genauer: auf ein Ticket zur Internationalen Raumstation ISS. Die promovierte Meteorologin Insa Thiele-Eich, 34, ist die andere. Beide haben ein mehrstufiges Auswahlverfahren mit 400 Kandidatinnen überstanden. Hinter dem Casting nach den strengen Kriterien des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt steht aber nicht – wie sonst üblich – die Europäische Raumfahrtorganisation ESA. Sondern eine private Stiftung. Die ESA rekrutierte zuletzt 2009 Nachwuchs für ihr Astronautenkorps, eine deutsche Kandidatin konnte sich nie durchsetzen. Die Bremer Initiative „Astronautin“ will das nun ändern und erstmals eine Deutsche in den Weltraum bringen. Unabhängig vom Geld der ESA, rein privat finanziert. Am Ende blieb ein halbes Dutzend Bewerberinnen übrig. Nach einem letzten Interview mit der Prüfungskommission erfuhren die sechs Frauen, wessen Traum weiter leben darf, und wessen nicht. „Da war null Freude“, erinnert sich Thiele-Eich an diesen Moment, „ich habe die anderen getröstet und sogar vergessen, Nicola zu gratulieren.“ Einige Tage dauerte es, bis sie realisierte, dass sie nun die Chance bekommen wird, den Planeten Erde zu verlassen.
Kurz vor Take-off in der Ilyushin, dem weltgrößten Parabelflugzeug. „Falls es Probleme gibt“, sagt unser russischer Ausbilder und grinst sehr breit, „zur Heckklappe gehen, rausspringen, Fallschirm öffnet sich, Flug genießen.“ Die Russen an Bord sind cooler als ich. Kampfpilotinnen auch. Also nehme ich mir gleich nach der Sicherheitseinweisung vor, in Nicola Baumanns Nähe zu bleiben. Wer mehrmals in der Woche in einem Eurofighter mit Mach 2 durch den Himmel schießt, schafft es zur Not auch noch, heil aus dieser Maschine zu hüpfen. Aber natürlich stürzen wir nicht ab. Die Ilyushins sind robuste Flugzeuge. Die Fallschirme vor unseren Bäuchen hingegen wiegen so schwer, dass ich sicher bin, sie stammen aus dem Zweiten Weltkrieg und können gar nicht funktionieren. Sie sollen uns wohl nur schon mal an die g-Kräfte gewöhnen, die uns mit der doppelten Erdanziehungskraft auf den Kabinenboden pressen, wenn die Maschine steil nach oben steigt.
Insgesamt elfmal bringen die Piloten das Flugzeug von 6000 auf 9000 Meter Höhe, dann kippen sie es am Scheitelpunkt in einen steilen Sinkflug. Während dieser Kurve – der Parabel – herrscht an Bord für knapp 30 Sekunden Schwerelosigkeit. Oder auch: Chaos. Die ESA nennt es „Formationsübungen“. Neben den Astronautinnen in spe sind ein Dutzend anderer frei schwebender Passagiere an Bord, ineinander verhakt, kopfüber im Rotationsflug. Zwei Stunden dauert das Ganze. Möglich macht es die Firma Space Affairs, die als privater Anbieter auf Erlebnisflüge wie diese spezialisiert ist. Baumann und Thiele-Eich erfahren zum ersten Mal die Schwerelosigkeit und schaffen es dennoch, in einen russischen Raumanzug zu steigen. Aufgabe bestanden. „Ein Gefühl, das süchtig macht und dem ich noch lange hinterherjagen werde“, sagt Baumann später.
Das geht nicht jedem so. Für einige in der Gruppe verflüssigt sich der Traum vom Weltraumflug in die transparenten Spucktüten. Ab nach vorn, auf die Plätze mit den Anschnallgurten. Beim Walk of Shame nach der Landung bleibt die Tüte bis zum Vorfeldbus in der Hand, Mülleimer gibt es nicht. Echter russischer Humor. Aus dem Autoradio trällert der Song „It’s The First Day Of The Rest Of Your Life“. Sie fühlt sich gut an, die Erde unter den Füßen.
Swjosdny Gorodok, zu deutsch „Sternenstädtchen“, blieb zu Sowjetzeiten streng abgeschirmt. Noch heute versprüht der Ort das Flair einer überdimensionierten Kaserne. 6000 Einwohner, viele Schranken, noch mehr Mythen. Künstliche Seen, Schulen, ein Krankenhaus und ein Supermarkt für die Kosmonauten und ihre Familien. Kaum ein Raum ohne Wandkalender, der Putin zeigt, mit schwarzer Sonnenbrille, telefonierend. Hier schlägt das Herz der russischen Raumfahrt. Und es schlägt stolz.
Seit den 1960er-Jahren bereiten sich Kosmonauten im Sternenstädtchen auf ihre Flüge ins Weltall vor. Außen bröckeln die Fassaden, aber hinter gelbem Backstein und schweren Holztüren verbirgt sich hochmoderne Technik. Die Astronauten-Anwärterinnen lernen den Simulator für die Sojus-Kapseln und die Module der ISS kennen. In einem Tauchbecken trainieren Kosmonauten für Außeneinsätze. Das Raumfahrtzentrum betreibt zudem mehrere Zentrifugen. Neben dem Parabelflug steht für die Anwärterinnen ein Schleudergang auf bis zu 5 g an, ähnlich der körperlichen Belastung beim Start in einer Rakete. Baumann kennt solche Tests von der Luftwaffe. Thiele-Eich sitzt zum ersten Mal in einer Zentrifuge. Sie meditiert viel, ihre Atmung bleibt ruhig. Die Ärzte sind beeindruckt von ihrem Puls.
Die Russen waren die Ersten im All, Juri Gagarin zählt seit seiner Erdumrundung am 12. April 1961 zu den Top Five der Nationalhelden. Vor seiner Statue macht unsere Gruppe einen kurzen Stopp, jeder legt eine Blume ab. Im Museum begegnen uns noch mehr Helden der Raumfahrt. Die Leiterin persönlich führt durch die Ausstellung, sie sagt: „Kein Kosmonaut benahm sich jemals wie ein Star, weil er bei den Sternen war. Sie alle sind demütig zurückgekehrt.“ Die Russen sind zurzeit die Einzigen, die zur ISS fliegen – die führende Raumfahrtnation der Welt. Wenn man hinauf zu den Sternen will, ist Swjosdny Gorodok ein guter Startpunkt.
Es gibt einige Hürden, die noch genommen werden müssen, damit für Baumann und Thiele-Eich aus dem viertägigen Schnuppertraining eine zweijährige Ausbildung wird. Am Ende darf nur eine ins All. Die andere bleibt als Back-up am Boden, so lauten die Regeln. Die erste deutsche Frau da oben, eine freiberufliche Astronautin, ihr Flug privat finanziert. Was Gleichberechtigung in der Raumfahrt angeht, hinkt Deutschland hinterher. Russen, Amerikaner, Italiener, Briten haben Frauen ins All geschossen. Und Westeuropas Raumfahrtnation Nummer eins? Keine einzige. „Für uns als Hochtechnologieland kann das nicht sein“, sagt Claudia Kessler, 52, eine Frau mit klaren Ansagen und klarem Auftrag. Sie ist mit ihren beiden Schützlingen im Sternenstädtchen dabei.
Als eine der erfahrensten Managerinnen der Raumfahrtbranche hat sie seit 25 Jahren auch mit deren Kommerzialisierung zu tun. In der Space Community kennt sie jeden, und jeder kennt sie. 2016 rief Kessler die „Astronautin“-Initiative ins Leben. Sie hat das Auswahlverfahren organisiert und ehemalige ESA-Ausbilder dazu bewegt, für die Stiftung zu arbeiten. Zwar fehlt noch der größte Teil der knapp 50 Millionen Euro, die das Training und eine Mission zur ISS kosten. Aber den werde sie auch noch zusammenbekommen, ist Kessler überzeugt.
2020 könnte es so weit sein. Dann soll es für die erste deutsche Astronautin heißen: zwei Wochen Leben und Schweben in der ISS. Forschung in der Schwerelosigkeit, speziell im Bereich medizinischer und physiologischer Veränderungen im weiblichen Körper. Die irdische Mission der Weltraum-Heldinnen: Als Rollenvorbild sollen sie Mädchen und jungen Frauen Mut machen, naturwissenschaftliche und technische Berufe zu lernen. Ihnen zeigen: Ihr könnt das auch! Wenn endlich die großen Sponsoren an Bord kommen und mit ihnen große Summen. Dass Audi einen neuen Mond-Rover finanziert, ermutigt Kessler bei der Suche nach passenden Partnern.
Zuletzt hat sie Airbus für ihr Projekt gewinnen können. 2018 sieht sie als entscheidendes Jahr, es steht ganz im Zeichen der Raumfahrt: Im Sommer übernimmt der ESA-Astronaut Alexander Gerst als erster Deutscher das Kommando auf der ISS. Im Herbst kommt der weltgrößte Raumfahrtkongress IAC nach Bremen. Dazu die Höhenflüge privater Unternehmen wie Elon Musks Space X oder Richard Bransons Virgin Galactic, die von staatlichen Institutionen anfangs belächelt wurden und heute die Branche vor sich her treiben. „Die Raumfahrt erlebt einen Hype, wie es ihn lange nicht gegeben hat. Davon wollen wir profitieren“, sagt Kessler.
Die Serie „Star Trek“ hat ihren legendären Vorspann bereits 1987 geändert: Aus „Where no man has gone before“ wurde das geschlechtsneutrale „Where no one has gone before“. Nicola Baumann und Insa Thiele-Eich riskieren viel dafür, ein Role-Model im Raumanzug zu werden, es ist ein Start-up mit ungewissem Ausgang. Die Eurofighter-Pilotin Baumann stand kurz davor, bei der Luftwaffe zur Staffelchefin befördert zu werden. Die Meteorologin Thiele-Eich legte ihre Karriere an der Uni Bonn, wo sie Grundlagenforschung zu Klima- und Wettervorhersagen betreibt, auf Eis. „Das Risiko ist hoch, aber der potenzielle Gewinn ist es auch“, sagt Baumann. Die Oberbayerin wuchs in einer Familie von Drachenfliegern auf, ihre Schwester wurde Pilotin bei Lufthansa. Sie selbst war mit 1,60 Meter zu klein, um bei der Airline zu landen. Bei der Bundeswehr bekam sie ihre Chance, zu fliegen. Sie nutzte sie. Mit 19 hob sie zum ersten Mal in einer Propellermaschine ab, mit 22 schoss sie in einem Tornado durch die Wolken. Mehr als zehn Jahre Kampfjet-Erfahrung schaden nicht, wenn man ein Raumschiff manövrieren will. Zurzeit macht sie im Fernstudium an der Purdue University in Indiana, einer Kaderschmiede für Astronauten, ihren Master in Luft- und Raumfahrttechnik. In der knappen freien Zeit, die ihr neben Freund, Russischlernen und Mountainbiken bleibt, strickt sie gerne. „Der Flug zur ISS ist für mich nicht das Ende meines Traums, sondern ein Anfang“, erklärt sie, „mich interessiert Pionierarbeit: auf einer Mondbasis zu leben, den Horizont der Menschheit ein kleines Stück weiterzustupsen.“
Insa Thiele-Eich ist mit solchen Ideen groß geworden, sie stammt aus einer Raumfahrerfamilie. Ihr Vater Gerhard Thiele flog im Jahr 2000 für die ESA ins All. Sein Ratschlag an die Tochter: Bleib du selbst, verstell dich nicht. Genieß die Reise, und vergiss nie, dabei Spaß zu haben. Er zeigte ihr in einer sternenklaren Nacht in den Bergen die Andromeda-Galaxie, da war sie acht Jahre alt. Und sofort infiziert von der unendlichen Weite des Weltraums. „Ein Schlüsselerlebnis. Seitdem beschäftigen mich die existenziellen Fragen: Warum sind wir hier? Wo kommen wir her? Gibt es noch anderes Leben?“
Den Antworten darauf soll eine der beiden Frauen im All näherkommen. Den Weg bis zum Start gehen sie gemeinsam. Ganz nach oben schafft es nur eine. Aber keine Mission ohne geheimen Back-up-Plan. Thiele-Eich verrät ihn: „Unser großes Ziel ist ja, einmal zur ISS zu fliegen und einmal den Mond zu umrunden. Das würden wir dann sehr gerne teilen.“
All für alle
SPACE AFFAIRS:
„Wir sind alle Astronauten“ ist das Motto des privaten Anbieters für Luft- und Raumfahrtabenteuer. Unter Leitung des erfahrenen All-Experten Andreas Bergweiler organisiert Space Affairs alles vom Zero-g-Erlebnis bis zum Kampfjet-Flug und unterstützt als Sponsor die Ausbildung der Astronautinnen.
Kurz nach Erscheinen der Reportage im Lufthansa Exclusive gab die Kandidatin Nicola Baumann bekannt, das Programm „Die Astronautin“ zu verlassen. Ihre Nachfolgerin wird die 38-jährige Kölner Astrophysikerin Suzanna Randall
Ein Beitrag aus dem Vielflieger-Magazin Lufthansa Exclusive
Text © Copyright Tim Cappelmann
Fotos © Copyright Markus Gloger
Tim Cappelmann
August 2017